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Keine Kunst gilt als so weit verbreitet rund um den Globus und durch die ganze Geschichte wie die Musik, und keine andere Kunst ist in der modernen (oder postmodernen) Gesellschaft so allgegenwärtig. Musik befindet sich immer in Gesellschaft. Musik ist ein machtvoller Faktor bei der Gestaltung individueller Erfahrung, aber auch bei der Konstruktion von Identitäten, der Herstellung von Gemeinschaften, der Strukturierung von Gesellschaften, ebenso aber auch bei der Kanalisierung antagonistischer Energien und Konflikte. Mit Musik können Liebe und Krieg gemacht werden.

Was sind die Herausforderungen und Aufgaben musikalischer Sozialforschung in der (post)modernen Gesellschaft? Die Ringvorlesung am Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig mit internationalen ReferentInnen wird diese (und viele weitere) Fragen aus einer Vielzahl von Perspektiven betrachten.

 

Eintritt frei! Immer mittwochs, 17.15–18-45 Uhr, Hörsaal 5 im Hörsaalgebäude der Universität Leipzig.

Eine Veranstaltung des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Leipzig

Konzept: Prof. Dr. Wolfgang Fuhrmann

Organisation: Marina Schwarz M.A., Philipp Kehrer

Fragen: wolfgang.fuhrmann@uni-leipzig.de

10. April 2019

FROM A THEORY OF MEDIATION TO A PRAGMATICS OF ATTACHMENTS

— Antoine Hennion, Paris

Antoine Hennion has developed a sociology of attention, analyzing music production and reception as performances. Be it through concerts, media listening oder amateurs' practices, to make music present requires a meticulous involvement, far beyond any determinism. Social sciences systematically discussed how social determinations explain our attachment to art, music, or other practices. They thus overlooked taste as being an activity – an approach that pragmatic-oriented researchers have developed for several years now, especially focusing on popular music, and digital or bodily performances. Attention is a powerful mode of presence to the world, making both the strength of things emerge, and oneself be sensitive to them. It also is a highly uncertain course, full of self-doubt: how to then acknowledge the capacity of things and beings to respond, to provoke, to deploy while offering holds to grab them, making us and them exist more intensively?

 

Antoine Hennion hat eine Aufmerksamkeitssoziologie entwickelt, die Musikproduktion und -rezeption als Performances analysiert. Sei es durch Konzerte, das Hören von Medien oder die Praktiken von Amateuren – um Musik präsentieren zu können, ist ein sorgfältiges Engagement erforderlich, das weit über jeden Determinismus hinausgeht. Sozialwissenschaften diskutieren systematisch, wie soziale Determinierungen unser Verhältnis zu Kunst, Musik oder andere Ausdrucksformen erklären. Dabei haben sie vernachlässigt, den Geschmack dabei als Aktivität miteinzubeziehen – ein Ansatz, den pragmatisch orientierte Forscher seit einigen Jahren entwickeln, vor allem mit populärer Musik und digitalen oder körperlichen Darbietungen. Die Aufmerksamkeit ist ein wichtiger Akt gegenüber der Welt, die sowohl die Kraft der Dinge zum Ausdruck bringt, als auch sich selbst für sie sensibel macht. Es ist auch ein höchst unsicheres Unternehmen voller Selbstzweifel: Wie erkennt man denn die Fähigkeiten von Dingen und Wesen an, zu reagieren, zu provozieren, einzusetzen, während man Sicherheiten anbietet, um sie zu ergreifen, und uns und sie intensiver existieren lässt?



17. April 2019

Musikgeschmack als soziales Merkmal: Forschungsüberblick und eigene Ergebnisse

— Melanie Wald-Fuhrmann, Frankfurt am Main

Warum gehen Opernliebhaber nicht ins Schlagerkonzert? Wenn die Antwort darauf etwas mit der sozialen Gruppenzugehörigkeit von Opern- und Schlager-Publikum zu tun hat, fällt die Frage in den Bereich der Soziologie. Tatsächlich sind musikbezogene Einstellungen (Geschmack) und Verhaltensweisen (Präferenz) schon lange ein zentraler Gegenstand der Musiksoziologie. Klassisch ist die sogenannte Homologie-These Pierre Bourdieus, der zufolge jede gesellschaftliche Schicht eine spezifische Musik-Richtung bevorzugt, Musikgeschmack also ein Mittel zur Distinktion sei. Mit dieser inhaltsbezogenen Theorie konkurriert seit den 1980er Jahren eine strukturelle Theorie: Der Musikgeschmack der Schichten unterscheidet sich ihr zufolge jetzt vornehmlich durch die Breite oder Enge, nicht so sehr durch die enthaltenen Musikstile. In meinem Vortrag möchte ich mit einigen grundlegenden Überlegungen zur Definition und soziokulturellen Bedingungen von Musikgeschmack beginnen. Dann stelle ich den Forschungsstand in seinen wichtigsten Positionen vor und werfe dabei auch einen Blick auf die psychologische Forschung zum Musikgeschmack. Schließlich werde ich Ergebnisse aus einer eigenen repräsentativen Umfrage zum Musikgeschmack der deutschen Bevölkerung diskutieren.

 


24. April 2019

Musik und Weltfrieden – Musiksoziologie aus dem geist der frühen neuzeit

— Karsten Mackensen, Gießen

Was haben populäre Musik, aktuelle Musiksoziologie und das musikalische Denken der Renaissance gemeinsam? Die Frage ist vielleicht so absurd nicht, wie sie klingt. Dass Musik in Wechselwirkung nicht nur mit menschlichem Handeln, sondern mit übergeordneten Strukturen, der Gesellschaft oder der Welt gar steht, ist ein Topos, der so alt ist wie das Nachdenken über Musik in der westlichen Kulturgeschichte. Er schlägt sich nieder nicht zuletzt in Utopien einer harmonisierend-ausgleichenden, einer ordnenden Kraft der Musik – auch weltgeschichtlich-global. Der Vortrag fragt danach, ob und in welcher Weise eine heutige, kritische Musiksoziologie von frühneuzeitlichen Musik-Konzeptionen und deren Erkundung profitieren kann und wo sie möglicherweise selber utopisch bleibt.


8. Mai 2019

Das musikalische Kunstwerk als Gegenstand der Musiksoziologie

— Wolfgang Fuhrmann, Leipzig

Antrittsvorlesung — Vor fast einem halben Jahrhundert, 1974, sprach Carl Dahlhaus in seinem Essay "Das musikalische Kunstwerk als Gegenstand der Soziologie" entschieden der Musiksoziologie ihren Führungsanspruch innerhalb der Musikwissenschaft ab. Dabei ging er von der Voraussetzung aus, dass der wahre Gegenstand der Musikgeschichte die Abfolge der musikalischen Kunstwerke im Kontinuum der Gattungen und kompositionsgeschichtlichen Fragestellungen bildet. Seitdem haben sich die Prioritäten der Disziplin grundlegend verändert, und dem musikalischen Kunstwerk kommt heute nicht mehr der Status eines unangefochtenen Paradigmas zu – auch nicht innerhalb der Musikgeschichtsschreibung. Dennoch haben Kunstwerke soziale Realität: Sie organisieren Praktiken und begründen Institutionen. Aber wie kann das Verhältnis einer Musiksoziologie, die Musik selbst als ein Produkt gesellschaftlicher Kommunikation betrachtet, zum musikalischen Kunstwerk bestimmt werden? Und gibt es so etwas wie eine Werkstruktur und eine ihr korrespondierende ästhetische Erfahrung, die weder auf soziale Distinktion noch auf Erlebnismilieus reduzierbar sind?

 


15. Mai 2019

Intersektionale Perspektiven auF musikkulturelle Aktivitäten und Felder

— Rosa Reitsamer, Wien

Dieser Vortrag widmet sich intersektionalen Perspektiven auf musikkulturelle Aktivitäten und Felder und beginnt mit einer kursorischen Rekonstruktion der Thematisierung von Gender respektive der Kategorie Frau in der Historischen Musikwissenschaft und der Popularmusikforschung. Daran anschließend werden theoretische Positionen zu Gender als intersektionale/interdependente Kategorie vorgestellt und deren Anwendung für Studien zu Musik als kreative, ästhetisch-affektive Praxis vorgestellt. Anhand von konkreten Beispielen aus den Feldern der Rock/Popmusik und der westlichen Kunstmusik wird schließlich das Potenzial intersektionaler Theorien im Kontext musiksoziologischer Methoden und Ansätze ausgelotet.

 


22. Mai 2019

Der Musikbetrieb im Wandel – Soziologische Einblicke

— Tasos Zembylas, Wien

Musik findet statt, indem Menschen Musik machen und hören, verbreiten und verkaufen, darüber sprechen und diese bewerten usw. Diese Aktivitäten sind von verschiedenen emotiven und kognitiven Zuständen begleitet, die stets praktisch und gesellschaftlich gerahmt sind. Aus dieser Einsicht generiert die Soziologie den Begriff "Musikbetrieb" und damit verbunden zumindest zwei Forschungsinteressen: a) Die Untersuchung und Analyse des historischen Wandels der gesellschaftlichen Organisation der Musikpraxis, b) Die Entwicklung von sozialtheoretischen Modellen, welche Strukturierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse plausibel erklären. Mein Vortrag wird sich auf das erste Thema beschränken: den historischen Wandel, der anhand folgender fünf Dimensionen analysiert wird: Von wem gehen die Impulse für das musikalische Schaffen aus? Wer sind die MusikerInnen? Wer sind die ZuhörerInnen und wie sieht der Musikmarkt aus? Wo wird Musik aufgeführt bzw. wie gestaltet sich der Zugang zur Öffentlichkeit? Welche technologischen und medialen Aspekte sind relevant? Die Antworten möchte ich dialogisch entwickeln, daher ersuche ich die LehrveranstaltungsteilnehmerInnen sich im Vorfeld Gedanken zu diesen Dimensionen zu machen.

 


29. Mai 2019

Fetter Sound für irre Zeiten? Popmusik und Musiksoziologie heute

— Holger Schwetter, Westerkappeln

Ausgehend von seiner eigenen Forschung zum Zusammenhang von Popmusik und sozialem Wandel in den 1970er und 1980er Jahren sowie zu Urheberrecht und Selbstvermarktung von MusikerInnen heute zeigt Holger Schwetter Erkenntnispotentiale der Musiksoziologie auf. In einem zweiten Schritt stellt er die Frage, welche Beiträge die Musiksoziologie in Bezug auf die sich gerade wieder verändernde Rolle von Popmusik leisten kann.

 


5. Juni

Toward a conceptual vocabulary for rethinking musical canons TODAY

— William Weber, Long Beach

I propose to explore a conceptual vocabulary for talking about how the concept of Canon can be applied to musical culture. Such rethinking is necessary given the multiple canons which can be identified in musical culture today Choice of key terms is crucial for our discussion, since so many – for example, ClassicGreat composer, or Masterpiece – carry problematic implications. A basic, relatively neutral term for canonic status can be respect, or in special cases high respect, suggesting an admiration found within criticism and the public which differentiates key figures from those in the profession as a whole. It is likewise useful to speak of living composer possessing an incipient canonic reputation, a reputation which over time can continue, disappear, or indeed come back again, as happened to a particular extent for Joseph Haydn.

 

In meinem Vortrag möchte ich ein neues Begriffsvokabular entwerfen, mit dem der Begriff des Kanons auf die Musikkultur angewendet werden kann. Vor allem im Hinblick auf die zahlreichen Kanons, die in der heutigen Musikkultur nebeneinander eine Rolle spielen, ist neuerliches Nachdenken notwendig: Die Auswahl von Schlüsselbegriffen ist für unsere Diskussion essentiell, denn viele von ihnen, wie beispielsweise "Klassik", "Großer Komponist", oder "Meisterwerk haben problematische Implikationen. Ein grundlegender, relativ neutraler Begriff für den kanonischen Status könnte der Terminus "Respekt" sein, oder in Spezialfällen "hoher Respekt", und damit wäre die Bewunderung bezeichnet, mit der in der Musikkritik und in der Öffentlichkeit einige Schlüsselfiguren bzw. -komponisten von der musikalischen Profession als ganzer abgegrenzt werden. Ebenso nützlich wäre es, bei lebenden Komponisten von "beginnender kanonischer Reputation" zu sprechen, die mit fortschreitender Zeit entweder andauern, verschwinden oder auch wieder auftauchen kann – wie es in gewissem Maße bei Joseph Haydn der Fall war.

 


12. Juni 2019

Autonomie der Kunst – Autonomie der Musik

— Uta Karstein, Leipzig

Der Begriff der Autonomie ist von der Philosophie, aber auch von der Soziologie in den vergangenen Jahren wieder neu in den Blick genommen worden, hat dabei jedoch zugleich eine zum Teil grundlegende Kritik erfahren. Die Vorlesung beleuchtet den historischen Hintergrund der Autonomiesemantik in Kunst und Musik und stellt einige der aktuellen autonomietheoretischen Debattenbeiträge vor. Im Anschluss daran sollen Möglichkeiten und Ansätze diskutiert werden, die es erglauben, Autonomiefragen mit ihren oftmals normativen Implikationen zu einem empirischen Forschungsgegenstand in der gegenwärtigen Musik- und Kunstsoziologie zu machen.

 


19. Juni 2019

Zwischen Selbsterhaltung und Selbst-Erhaltung. C. P. E. Bach überlegt, was ein Komponist zu verkaufen habe

— Boris Voigt, Hamburg

In der entstehenden kommerziellen Gesellschaft während des 18. Jahrhunderts wird auch die Musik rasch zur Ware, doch war es für Komponisten gar nicht leicht zu sagen, was sie eigentlich verkaufen wollten. Die flüchtige Musik lässt, um mit Kant zu sprechen, die Zeit leer, sie zeitigt kein Ergebnis. Zudem muss man, um eine Sache zu verkaufen, sie sich erst einmal angeeignet haben. Diese beiden Schwierigkeiten mussten die Komponisten erst lösen, um die Frage nach dem, was sie verkaufen, beantworten zu können. Solange die Antworten nicht feststehen, liegt es nahe, sie auch kompositorisch zu erproben. Carl Philipp Emanuel Bach beschäftigte sich in seiner Musik mit ihnen und war zudem ein gewiefter Kaufmann. Kompositorisches und ökonomisches Denken sind bei ihm weder zu trennen noch untereinander konfliktfrei. An Bach lässt sich prägnant darstellen, wie Kompositionen zur Ware wurden, ebenso aber, warum ihre Komponisten – selbst bei gutem Verdienst – darunter litten, dass sie es wurden.

 


26. Juni 2019

Musik in der Gesellschaft der Krieger

— Morag J. Grant, Edinburgh

Kriegerische Kulturen ("martial cultures") sind Gesellschaften, die im kleineren oder größeren Maß von Krieg bzw. von der Möglichkeit von Krieg bestimmt sind. Die meisten modernen Staaten sind kriegerische Gesellschaften: Das stehende Heer gilt als normal, und oft ist die kollektive Identität zu einem großen Grad mit Erinnerungen an vergangene Kriege gekoppelt. Kriegerische Kulturen sind also heutzutage die Regel, nicht die Ausnahme – und dennoch unterstreicht dieser Begriff, dass Kriege keine Naturphänomen sind: Kriege passieren, weil Gesellschaften sich darauf vorbereiten und ausrichten. Anhand diverser Beispiele diskutiert der Vortrag, welche Rollen Musik in diesem Prozess spielen kann,  und warum die musikwissenschaftliche Erforschung von Krieg und von kriegerischen Kulturen so wichtig ist.

 


3. Juli 2019

Big Data – big Risks? Chancen und Gefahren von musikbezogenen Algorithmen für Wissenschaft und Gesellschaft

— Andreas Gebesmair, St. Pölten

Die digitalen Plattformen der Musikdistribution wie Spotify, Deezer oder YouTube bieten eine noch nie dagewesene Fülle an Daten, die einen tiefen Einblick in das musikalische Verhalten von Millionen von UserInnen ermöglichen. Gleichzeitig bergen sie aber auch neue Gefahren – sowohl für die Forschung als auch für die Musikkultur. Denn zum einen haben nur wenige einen privilegierten Zugang zu den Daten, zum anderen besteht der Verdacht, dass die Empfehlungsalgorithmen der Plattformen selbst das Rezeptionsverhalten verändern und etwa zur Ausbildung musikalischer Filterblasen führen. Der Vortrag besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil werden die Möglichkeiten einer "Computational Music Sociology" ausgelotet, die sich der großen Datenbestände wie auch neuer Verfahren der Analyse (Music Information Retrieval, Machine Learning, Netzwerkanalyse) bedient. Im zweiten Teil werden dann musiksoziologische Fragestellungen, die sich aus der digitalen Distribution ergeben, behandelt. Wie verändert die Tatsache, dass eine ungeahnte Fülle an Musik jederzeit beinahe kostenlos zur Verfügung steht, die Musikkultur?